Dauerhafter Verfall: Axel Loytveds ruinöse Stillleben der Konsumwelt
von Ludwig Seyfarth
Stellen wir uns einmal vor, wir begegneten
merkwürdigen bräunlichen Gebilden, die entweder flach rechteckig oder
gerundet geformt zu einem auf dem Boden liegenden Ensemble arrangiert
sind, ohne zu wissen, dass wir uns in einer Ausstellung zeitgenössischer
Kunst befinden. Wir würden vielleicht denken, dass es sich um
Fundamente einer antiken Stätte handelt, die aus dem Erdreich
ausgegraben wurden, und nach einer Texttafel oder einem anderem
Vermittlungsinstrument suchen, das uns nähere Information zum
geographischen Ort und historischen Kontext der archäologischen Funde
liefern würde.
Mag aber sein, dass wir das Ensemble nur auf einer
Abbildung sehen, die uns über seine reale, raumfüllende Größe täuscht.
Dann ließe sich ein Sortiment von Süßigkeiten vermuten,
Bitterschokolade, Vollkornkekse oder Müsliriegel, wobei sich die Frage
stellt, ob es sich bei den überall sichtbaren weißen Stellen um
Kokosraspel handelt oder um Schimmel, um Spuren des Verfalls auf den
offenkundig nicht mehr ganz taufrischen Naschereien.
Besonders
appetitlich sieht das Ganze jedenfalls nicht aus. Es kann sogar die
Assoziation an Exkremente aufkommen, die dann jedoch unerwartet kompakte
Formen angenommen hätten. Ein Verdauungsprozess fand, zumindest im
übertragenen Sinn, tatsächlich statt. Das in ihn Eingeführte waren
einmal Regal- oder Schrankbretter aus dem Sortiment eines bekannten
skandinavischen Möbelhauses, weiß beschichtete Spanplatten, die Loytved
geschreddert hat. Aus Pappkartons oder Verpackungsfolien stellte der
Künstler dann verschiedene Hohlformen her, in die er das Geschredderte
hineingab, welches sich durch Zugabe von Epoxydharz in den neuen Formen
verfestigte.
In kunsthistorischen Kategorien betrachtet, wäre
das Ensemble als Bodenskulptur oder -installation einzuordnen. Die
Anordnung erscheint ähnlich klar und regelmäßig wie beispielsweise bei
den Holzquadern von Carl Andre, deren Positionen und Abstände zueinander
subtil abgestimmt sind. Doch die geometrischen Formen Andres und
anderer Minimal-Künstler suggerieren Härte und Dauerhaftigkeit, während
Loytved mit der Suggestion von Weichheit, Vergänglichkeit, Verfall sowie
organischer und körperlicher Prozesse spielt. Was die
Anmutungsqualitäten des Materials betrifft, erinnert das Ensemble eher
an das Fett und die teilweise fluiden Stoffe, mit denen Joseph Beuys bei
seinen Rauminstallationen immer wieder das Prozesshafte betonte. Beuys’
Interesse für alchimistische Umwandlungsprozesse scheint in der
heutigen Kunst wieder aufzuleben,(1) was man auch für Loytveds
transformierenden Umgang mit Ausgangsobjekten und -materialien geltend
machen könnte. Beuys’ messianisch-weltverbessernder Anspruch liegt
Loytved jedoch fern; er ist ein Künstler der kleinen Gesten und
Eingriffe, die ihre Ausgangspunkte in der heutigen Konsumwelt nicht
verbergen. Eine bunte Tragetasche, mit der man gewöhnlich das in einer
Boutique Erworbene nach Hause trägt, ist mit zahlreichen kleinen Löchern
versehen, wobei das Ausgestanzte wie Konfetti auf dem Boden verstreut
liegt. Dieses Objekt verliert seine Grenzen, verteilt sich tendenziell
in seiner Umgebung, während eine Reihe von Jutetaschen im wahrsten Sinne
eine Zerreißrobe erfährt, denn die Tüten sind mit schwerem Zement
gefüllt. Solche Manipulationen am Funktionalen erinnern an blöde Witze,
wie sie traditionell über die Bewohner der Region westlich von
Wilhelmshaven gemacht werden. Ich erinnere mich nicht mehr, ob es die
Ostfriesen oder andere Opfer kollektiver Häme waren, die zu dumm zum
Einkaufen seien, weil sie einen zehn Mark-Schein zerbrechen und die
Milch im Netz holen würden.
Ist es nicht etwas ähnlich „Blödes“,
Feuerwerkskörper in feuchten Ton zu zünden, so dass man weder die
Funken sprühen sieht, noch einen deftigen Knall hören kann? Bei den
„Sprengungen“, die Axel Loytved zusammen mit Daniel Wolff durchführte,
ging es natürlich um etwas anderes. In den Tonobjekten entstanden
Hohlräume, die wie beim Verfahren der „verlorenen Form“ mit Bronze oder
Aluminium ausgegossen wurden, was merkwürdigen kleine Körper
hervorbrachte, die an antike Gefäße erinnern. Die kleinen Explosionen
finden aus Sicherheitsgründen immer in geschlossenen Gefäßen statt, etwa
in Blumentöpfen, bei denen sich die durch die Sprengung auseinander
gestobenen Objekte direkt mit der Topfwand verbinden, so dass beim
Brennen gleichsam zwei ineinander verschlungene Gefäße entstehen.
Loytveds
offenkundiges Desinteresse an klaren, geometrischen Formen und
polierten Oberflächen, die bewusste Zerstörung geschlossener Formen und
das Hervorkehren organischer Prozesse erinnert an ein Motiv, das schon
im Mittelalter und in der frühen Neuzeit zentraler Bestandteil der
„Verkehrten Welt“ war, die im Ritual des Karnevals die gewohnte Ordnung
der Dinge auf den Kopf stellte. Es handelt sich um die Konzeption des
grotesken Leibes, die der russische Literaturwissenschaftler Michail
Bachtin in seiner berühmten Theorie des Karnevalistischen beschrieben
hat. Der groteske Leib ist weniger durch seine Körpergrenzen als durch
seine Öffnungen definiert: „Die wesentlichen Ereignisse im Leben des
grotesken Leibes“ sind „die Akte des Körper-Dramas, Essen, Trinken,
Ausscheidungen (Kot, Urin, Schweiß, Nasenschleim, Mundschleim),
Begattung, Schwangerschaft, Niederkunft, Körperwuchs, Altern,
Krankheiten, Tod, Zerfetzung, Zerteilung, Verschlingung durch einen
anderen Leib (...). Die künstlerische Logik der grotesken Gestalt
ignoriert also die verschlossene, ebenmäßige und taube Fläche des
Leibes...“(2)
Der österreichische Bildhauer Franz West, der sich
dezidiert auf Bachtin bezog, vermied glatte und „taube“ Oberflächen
ähnlich konsequent wie Axel Loytved. West hat der grotesken Ordnung der
Sinne, in der die „niederen“ Nahsinne dominieren, in vielen Werken
Ausdruck verliehen, besonders deutlich in seinen Lemurenköpfen. Hier
treten nur Nase und Mund hervor, Auge und Ohren fehlen hingegen
vollständig. Die im Körper stattfindenden organischen Prozesse werden
auch durch Wests „Handlungsanweisung“ an die Rezipienten betont, in den
Mäulern der Lemurenköpfe „Speisereste und Küchenabfälle zur Verwesung zu
bringen“.(3)
Auch Loytveds Verdrehungen und Manipulationen der
gewohnten Ordnung der Dinge könnte man als Verwandlung der Dingwelt in
ein Universum grotesker Körper sehen. Loytved agiert wie ein Narr oder
Trickster, der auf humoristische Weise hinter die Dinge schaut und im
scheinbaren Blödsinn eine tiefere Wahrheit an die Oberfläche bringt.
Alle
seine Objekte tragen, auch wenn feste und dauerhafte Materialien zum
Einsatz kommen, ihren Verfall deutlich in sich. Damit aktualisiert
Loytved, wenn auch ohne jeden mahnenden Zeigefinger, die Tradition der
Vanitas-Motive in der Stilllebenkunst. Seine Skulpturen und
Installationen sind gleichsam Stillleben unserer Konsumwelt, deren
glatte, scheinbar zeitlose Oberflächen über die meist kurze
Halbwertszeit der Produkte hinwegtäuschen. Diese scheint gleichsam ins
Produkt hineingesehen, wenn seine Außenseite gleichsam zu einem
verwitternden, ruinösen Gemäuer wird. Ruinen haben unzählige
Meditationen über die Vergänglichkeit des Daseins inspiriert, die
allerdings selten so humorvoll waren wie heute bei Axel Loytved. 1 Siehe Neue Alchemie. Kunst der Gegenwart nach Beuys, Ausst.-Kat. LWL-Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte, Münster, Köln 2010.
2 Michail Bachtin, Literatur und Karneval, München 1969, S. 16 f.
3 Franz West. Proforma, Ausst.-Kat. Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien 1996, S. 201.