von Nadine Droste
„Das körperliche Gewicht der Dinge ist weg. Es gibt nur Versprechen“, schreibt René
Pollesch in dem Essay
Lob des alten litauischen Regieassistenten im grauen Kittel, um danach zu fragen, wie es sich lebt in Versprechen, die von Geschichten ausgehen, die nicht die eigenen sind. (1)
Axel
Loytved hinterfragt in seiner künstlerischen Praxis die Versprechen der
postdisziplinären Gesellschaft, indem er den entfremdeten Dingen des
Alltags körperliches Gewicht verleiht. Seine Arbeiten fokussieren auf
jenes Moment, in dem gegenwärtige Modelle der Wertschöpfung implodieren,
in dem sich die Forderung, Leben und Ware in Einklang zu bringen, nicht
mehr einlöst. Sie sind eine präzise Infragestellungen von
Verwertungsprozessen, Wert- und Bedeutungszuschreibungen. Sein
Ausgangsmaterial findet Loytved in Seitenstraßen, Hinterhöfen und
Hosentaschen. Es sind die Hüllen von Attraktionen und Begehren, anhand
derer Loytved neue Formen entwickelt und die Neuperspektivierung von
sozialen und ökonomischen Kreisläufen unternimmt.
Eine der aktuellsten Arbeiten des Künstlers steht seit September 2019 auf dem Essener Zwingliplatz. Die Skulptur PILE – A pile of new and old wishes
basiert auf seinen Beobachtungen des Elting-Viertels, das als eine der
ältesten, planmäßigen Innenstadterweiterungen Ende des 19. Jahrhunderts
für die Arbeiter*innen der Zeche Victoria Mathias errichtet wurde.
Loytved fokussierte in seinen Recherchen auf das Moment der
Transformation des Wohnviertels, das durch die endgültige Stilllegung
der Zeche 1965 von Strukturwandel und Leerstand geprägt war und sich
heute als Teil des Entwicklungskonzepts „Soziale Stadt – Investitionen
im Quartier“ im städtebaulichen Wandel befindet. Auf seinen Streifzügen
durch das Viertel trug der Künstler auf der Straße entsorgte
Gebrauchsgegenstände zusammen. Er las Möbel, Baumaterialen,
Kleidungsstücke oder Haushaltsutensilien auf – Objekte, derer sich die
Bewohner*innen entledigt hatten, weil sie entweder nicht mehr von
Gebrauch oder Wert erschienen. Es ist das Spezifische an Loytveds
Praxis, tradierte Begriffe der Wertigkeit von Materialien und
Gegenständen grundlegend in Frage zu stellen und sie vielmehr als Träger
dynamischer Prozesse zu begreifen. Wenn er verworfene Objekte zum
Ausgangspunkt seiner Praxis erklärt, dann gilt es Loytved zu fragen,
worüber sich Begehren, Intensitäten und Wünsche konstituieren. Für PILE hat
Loytved die gefundenen Gebrauchsgegenstände neu angeordnet, in eine
2,50 Meter hohe Konstruktion übersetzt und mit einer Schicht aus
Pappmaché umhüllt. Genauso wie die alltäglichen Fundstücke entstammt
auch das Material der Pappmachémasse Werbewurfsendungen, die Loytved
über Monate vor Briefkästen und in Hauseingängen sammelte. Die so
entstandene Form dient dem Künstler als Modell für einen Aluminiumguss,
der, überzogen mit einem für die Autoindustrie produzierten, je nach
Lichteinfall changierenden Effektlack, die Skulptur PILE
konstituiert. In ihr treten Form, Materialität und Oberfläche in ein
Spannungsverhältnis, das die vorherrschenden Fragestellungen
bildhauerischer Produktion neu perspektiviert.
Dass
Loytved den Prozess der Formfindung als einen Vorgang der Übersetzung
sozialer Einschreibungen begreift, zeigt bereits eine Reihe von Werken
an, die
PILE vorausgehen. Die Objekte aus
Verpackungsmaterialien, Papierresten oder gar Abfall oszillieren an der
Grenze zwischen Form und Nicht-Form, Hülle und Kern sowie Zufall und
Setzung. Sie folgen dem Paradox, aus Unformen oder Leerstellen
skulpturale Körper zu erzeugen. Wenn Loytved Chipstüten, Kartons oder
Pappbecher mit Löchern versieht und die Ausschnitte so anordnet, als
wäre das Objekt mit Konfetti beworfen worden, dann erklärt er die
Warencontainer selbst zur Attraktion. Seine Frage, worüber sich
Bedeutungszusammenhängen konstituieren, geht immer auch mit einem
Augenzwinkern einher. Es sind Verschiebungen in der Wahrnehmung, die
Loytved auf diese Weise produziert, anhand derer er die Logiken
kapitalistischer Verdinglichung, materialistische Vorstellungen und die
Hüllen der Warenform ins Sichtbare überführt. Mit der Unterbrechung
jeder Annahmen und jeglicher Festlegungen eröffnet er die Möglichkeit,
„verworfene Objekte [...], in deren dunklem Prisma die sozialen
Verhältnisse in Bruchstücken eingefroren [liegen]“ (2), aus neuer
Perspektive zu betrachten.
1 René Pollesch, Lob des alten litauischen Regieassistenten im grauen Kittel, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hrsg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2012, S. 243-248, hier S. 247.2
Hito Steyerl, Die Sprache der Dinge, in: transversal (2006), URL:
https://transversal.at/transversal/0606/steyerl/de?hl=Abfall
(27.10.2019)