Stellen wir uns einmal vor, wir begegneten merkwürdigen bräunlichen Gebilden, die entweder flach rechteckig oder gerundet geformt zu einem auf dem Boden liegenden Ensemble arrangiert sind, ohne zu wissen, dass wir uns in einer Ausstellung zeitgenössischer Kunst befinden. Wir würden vielleicht denken, dass es sich um Fundamente einer antiken Stätte handelt, die aus dem Erdreich ausgegraben wurden, und nach einer Texttafel oder einem anderem Vermittlungsinstrument suchen, das uns nähere Information zum geographischen Ort und historischen Kontext der archäologischen Funde liefern würde.
Mag aber sein, dass wir das Ensemble nur auf einer Abbildung sehen, die uns über seine reale, raumfüllende Größe täuscht. Dann ließe sich ein Sortiment von Süßigkeiten vermuten, Bitterschokolade, Vollkornkekse oder Müsliriegel, wobei sich die Frage stellt, ob es sich bei den überall sichtbaren weißen Stellen um Kokosraspel handelt oder um Schimmel, um Spuren des Verfalls auf den offenkundig nicht mehr ganz taufrischen Naschereien.
Besonders appetitlich sieht das Ganze jedenfalls nicht aus. Es kann sogar die Assoziation an Exkremente aufkommen, die dann jedoch unerwartet kompakte Formen angenommen hätten. Ein Verdauungsprozess fand, zumindest im übertragenen Sinn, tatsächlich statt. Das in ihn Eingeführte waren einmal Regal- oder Schrankbretter aus dem Sortiment eines bekannten skandinavischen Möbelhauses, weiß beschichtete Spanplatten, die Loytved geschreddert hat. Aus Pappkartons oder Verpackungsfolien stellte der Künstler dann verschiedene Hohlformen her, in die er das Geschredderte hineingab, welches sich durch Zugabe von Epoxydharz in den neuen Formen verfestigte.
In kunsthistorischen Kategorien betrachtet, wäre das Ensemble als Bodenskulptur oder -installation einzuordnen. Die Anordnung erscheint ähnlich klar und regelmäßig wie beispielsweise bei den Holzquadern von Carl Andre, deren Positionen und Abstände zueinander subtil abgestimmt sind. Doch die geometrischen Formen Andres und anderer Minimal-Künstler suggerieren Härte und Dauerhaftigkeit, während Loytved mit der Suggestion von Weichheit, Vergänglichkeit, Verfall sowie organischer und körperlicher Prozesse spielt. Was die Anmutungsqualitäten des Materials betrifft, erinnert das Ensemble eher an das Fett und die teilweise fluiden Stoffe, mit denen Joseph Beuys bei seinen Rauminstallationen immer wieder das Prozesshafte betonte. Beuys’ Interesse für alchimistische Umwandlungsprozesse scheint in der heutigen Kunst wieder aufzuleben,(1) was man auch für Loytveds transformierenden Umgang mit Ausgangsobjekten und -materialien geltend machen könnte. Beuys’ messianisch-weltverbessernder Anspruch liegt Loytved jedoch fern; er ist ein Künstler der kleinen Gesten und Eingriffe, die ihre Ausgangspunkte in der heutigen Konsumwelt nicht verbergen. Eine bunte Tragetasche, mit der man gewöhnlich das in einer Boutique Erworbene nach Hause trägt, ist mit zahlreichen kleinen Löchern versehen, wobei das Ausgestanzte wie Konfetti auf dem Boden verstreut liegt. Dieses Objekt verliert seine Grenzen, verteilt sich tendenziell in seiner Umgebung, während eine Reihe von Jutetaschen im wahrsten Sinne eine Zerreißrobe erfährt, denn die Tüten sind mit schwerem Zement gefüllt. Solche Manipulationen am Funktionalen erinnern an blöde Witze, wie sie traditionell über die Bewohner der Region westlich von Wilhelmshaven gemacht werden. Ich erinnere mich nicht mehr, ob es die Ostfriesen oder andere Opfer kollektiver Häme waren, die zu dumm zum Einkaufen seien, weil sie einen zehn Mark-Schein zerbrechen und die Milch im Netz holen würden.
Ist es nicht etwas ähnlich „Blödes“, Feuerwerkskörper in feuchten Ton zu zünden, so dass man weder die Funken sprühen sieht, noch einen deftigen Knall hören kann? Bei den „Sprengungen“, die Axel Loytved zusammen mit Daniel Wolff durchführte, ging es natürlich um etwas anderes. In den Tonobjekten entstanden Hohlräume, die wie beim Verfahren der „verlorenen Form“ mit Bronze oder Aluminium ausgegossen wurden, was merkwürdigen kleine Körper hervorbrachte, die an antike Gefäße erinnern. Die kleinen Explosionen finden aus Sicherheitsgründen immer in geschlossenen Gefäßen statt, etwa in Blumentöpfen, bei denen sich die durch die Sprengung auseinander gestobenen Objekte direkt mit der Topfwand verbinden, so dass beim Brennen gleichsam zwei ineinander verschlungene Gefäße entstehen.
Loytveds offenkundiges Desinteresse an klaren, geometrischen Formen und polierten Oberflächen, die bewusste Zerstörung geschlossener Formen und das Hervorkehren organischer Prozesse erinnert an ein Motiv, das schon im Mittelalter und in der frühen Neuzeit zentraler Bestandteil der „Verkehrten Welt“ war, die im Ritual des Karnevals die gewohnte Ordnung der Dinge auf den Kopf stellte. Es handelt sich um die Konzeption des grotesken Leibes, die der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin in seiner berühmten Theorie des Karnevalistischen beschrieben hat. Der groteske Leib ist weniger durch seine Körpergrenzen als durch seine Öffnungen definiert: „Die wesentlichen Ereignisse im Leben des grotesken Leibes“ sind „die Akte des Körper-Dramas, Essen, Trinken, Ausscheidungen (Kot, Urin, Schweiß, Nasenschleim, Mundschleim), Begattung, Schwangerschaft, Niederkunft, Körperwuchs, Altern, Krankheiten, Tod, Zerfetzung, Zerteilung, Verschlingung durch einen anderen Leib (...). Die künstlerische Logik der grotesken Gestalt ignoriert also die verschlossene, ebenmäßige und taube Fläche des Leibes...“(2)
Der österreichische Bildhauer Franz West, der sich dezidiert auf Bachtin bezog, vermied glatte und „taube“ Oberflächen ähnlich konsequent wie Axel Loytved. West hat der grotesken Ordnung der Sinne, in der die „niederen“ Nahsinne dominieren, in vielen Werken Ausdruck verliehen, besonders deutlich in seinen Lemurenköpfen. Hier treten nur Nase und Mund hervor, Auge und Ohren fehlen hingegen vollständig. Die im Körper stattfindenden organischen Prozesse werden auch durch Wests „Handlungsanweisung“ an die Rezipienten betont, in den Mäulern der Lemurenköpfe „Speisereste und Küchenabfälle zur Verwesung zu bringen“.(3)
Auch Loytveds Verdrehungen und Manipulationen der gewohnten Ordnung der Dinge könnte man als Verwandlung der Dingwelt in ein Universum grotesker Körper sehen. Loytved agiert wie ein Narr oder Trickster, der auf humoristische Weise hinter die Dinge schaut und im scheinbaren Blödsinn eine tiefere Wahrheit an die Oberfläche bringt.
Alle seine Objekte tragen, auch wenn feste und dauerhafte Materialien zum Einsatz kommen, ihren Verfall deutlich in sich. Damit aktualisiert Loytved, wenn auch ohne jeden mahnenden Zeigefinger, die Tradition der Vanitas-Motive in der Stilllebenkunst. Seine Skulpturen und Installationen sind gleichsam Stillleben unserer Konsumwelt, deren glatte, scheinbar zeitlose Oberflächen über die meist kurze Halbwertszeit der Produkte hinwegtäuschen. Diese scheint gleichsam ins Produkt hineingesehen, wenn seine Außenseite gleichsam zu einem verwitternden, ruinösen Gemäuer wird. Ruinen haben unzählige Meditationen über die Vergänglichkeit des Daseins inspiriert, die allerdings selten so humorvoll waren wie heute bei Axel Loytved. 1 Siehe Neue Alchemie. Kunst der Gegenwart nach Beuys, Ausst.-Kat. LWL-Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte, Münster, Köln 2010.
2 Michail Bachtin, Literatur und Karneval, München 1969, S. 16 f.
3 Franz West. Proforma, Ausst.-Kat. Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien 1996, S. 201.